Das Bundesverfassungsgericht hat mit heutigem Beschluss (abrufbar unter folgendem Link) klargestellt, dass die Verzinsung von Steuernachzahlungs- und Steuererstattungsbeträgen mit monatlich 0,5% seit 2014 gegen den Gleichheitssatz verstößt und damit verfassungswidrig ist. Die Wirkungen der Entscheidung beschränkte das Gericht unter anderem in zeitlicher Hinsicht und ordnete an, dass der Gesetzgeber nur für Zeiträume ab 2019 Abhilfe schaffen muss.
Hintergrund der Entscheidung
Vom Finanzamt festgestellte Steuererstattungen und Steuernachzahlungen sind nach den Vorgaben der §§ 233a AO in Verbindung mit § 238 Abs. 1 AO ab dem 15. Monat nach Ablauf des jeweiligen Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist, mit 0,5 % pro Monat – mithin 6 % jährlich – zu verzinsen.
Beispiel: Laut Einkommensteuerbescheid vom 18.08.2021 muss Unternehmerin Musterfrau für 2018 insgesamt 100.000 EUR an Einkommensteuern nachzahlen. Hinzukommen nach aktueller Rechtslage sodann noch die Nachzahlungszinsen auf die 100.000 EUR für 16 Monate (April 2020 bis einschließlich Juli 2021) in Höhe von 8 % – mithin 8.000 EUR.
Angesichts des Verzinsungsbeginns 15 Monate nach Ende des Kalenderjahres kommt die Verzinsung in der Praxis meist dann zum Tragen, wenn nachträgliche Betriebsprüfungen Abweichungen von der bisherigen Festsetzung ergeben oder wenn freiwillige Erklärungen erst zu einem sehr späten Zeitpunkt abgegeben werden.
Kritik an der Zinshöhe
Der Grundgedanke, der hinter der Verzinsung der entsprechenden Beträge steht, ist die Abschöpfung eines etwaigen Vorteils, den der Steuerpflichtige oder der Fiskus durch die Überlassung des Kapitals hat. Die Regelung geht mithin – simplifiziert dargestellt – davon aus, dass die Überlassung monetärer Mittel 6 % per anno einbringt.
Die Zinshöhe war folgerichtig sowohl in der steuerrechtlichen Literatur als auch in der steuerlichen Praxis bereits seit langem höchst umstritten, befindet sich die Europäische Union doch bekannter Weise bereits seit etlichen Jahren in einer Niedrigzinsphase. Mit anderen Worten: Sucht man mit Blick auf die Anlage seines Kapitals nach einer sicheren jährlichen Verzinsung mit 6 %, so gestaltet sich dieses Unterfangen – gelinde ausgedrückt – als schwierig.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes
Zu entscheiden hatte das Bundesverfassungsgericht in dem insgesamt 264 Randnummern umfassenden Beschluss in erster Linie über Zinsfestsetzungen von 2010 bis Juli 2014. Es äußerte sich in der Entscheidung sodann gleichwohl
„zur Wahrung der Rechtseinheit über den festgestellten Verfassungsverstoß hinaus ohne zeitliche Einschränkung“
auch über die nachfolgenden Zeiträume und stellte im Ergebnis fest, dass der gesetzlich festgeschriebene Zinssatz seit 2014 gegen die Verfassung verstößt. Zu den Folgen der Entscheidung führte das Verfassungsgericht im Einzelnen Folgendes aus:
- Begrenzung der zeitlichen Wirkung
Um die gravierenden Auswirkungen der Entscheidung für den Fiskus zu begrenzen ordnete das Bundesverfassungsgericht an, das die Vorschriften des § 233a in Verbindung mit § 238 Abs. 1 Satz 1 AO für die Verzinsungszeiträume von 2014 bis einschließlich 2018 fortgelten. Gerichte und Verwaltung haben mithin erst ab 2019 die in Rede stehenden Regelungen nicht mehr anzuwenden.
- Verzicht auf Festlegung eines Zinssatzes und Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber
Auf die Festlegung eines angemessenen Zinssatzes verzichtete das Bundesverfassungsgericht unter Hinweis auf die diesbezüglichen Gestaltungsspielräume des Gesetzgebers, dem das Bundesverfassungsgericht aufgegeben hat, bis zum 31.07.2022 für den Zeitraum ab 2019 eine angemessene Neuregelung zu schaffen.
- Stundungs-, Hinterziehungs- und Aussetzungszinsen nicht erfasst
Das Bundesverfassungsgericht hat zudem ausdrücklich klargestellt, dass weder Stundungs- noch Hinterziehungs- und Aussetzungszinsen nach den §§ 234, 235 und 237 AO von der Unvereinbarkeitserklärung erfasst sind.
Bedeutung für die Praxis
Die zeitliche Begrenzung auf Zeiträume ab 2019 nimmt der Entscheidung ein wenig die Brisanz, läuft der diesbezügliche 15 Monatszeitraum doch erst seit April 2021 und damit seit etwa vier Monaten. Interessant wird in der Praxis daher insbesondere sein, wie – und in welchem Tempo – die Finanzverwaltung jene Bescheide abarbeiten wird, die mit Vorläufigkeitsvermerk mit Blick auf die Verfassungsbeschwerde erlassen wurden und in denen die Anpassung von Amts wegen angekündigt wurde bzw. jene Bescheide bearbeitet, die noch in einem Einspruchsverfahren verhaftet sind. Ein besonderes Augenmerk wird in diesem Zusammenhang auch darauf zu richten sein, wie das Bundesfinanzministerium auf die Entscheidung reagieren und die entsprechenden Anwendungserlasse in Abstimmung mit den Oberfinanzdirektionen anpassen wird.
Schlussendlich bleibt abzuwarten, wie und bis wann der Gesetzgeber die erforderliche Neuregelung umsetzen wird. Das Bundesverfassungsgericht hat die Möglichkeiten insoweit bereits umrissen und im Zuge dessen auch die folgende Erwägung in den Raum gestellt:
„In der Gegenwart, in der verstärkt Negativzinsen von den Banken erhoben werden, könnte der Gesetzgeber auch gänzlich auf eine Vollverzinsung verzichten.“
Eine dezente – und vermutlich auch als Denkanstoß zu verstehende – Anmerkung, die sich der Gesetzgeber bei der Novellierung der in Rede stehenden Vorschriften hoffentlich zu Herzen nimmt.
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LTMK-Blogbeitrag-Zinsniveau-BVerfG-18-08-2021